Titel
How the Soviet Jew Was Made.


Autor(en)
Senderovich, Sasha
Erschienen
Anzahl Seiten
368 S.
Preis
€ 43,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Leonie Rogg, Ost- und Südosteuropastudien, Ludwig-Maximilians-Universität München

Das jüdische Ansiedlungsrayon wurde 1791 von Katharina der Großen im Zuge der Teilungen Polens etabliert und blieb bis zur Russischen Revolution 1917 bestehen, nur dort durften Juden legal siedeln. Seine Auflösung führte zu einer Welle jüdischer Mobilität und Transformation. In seinem Buch How the Soviet Jew Was Made nähert sich der Slawist Sasha Senderovich dem in jener Zeit entstehenden und nur schwer zu definierenden Typus des „sowjetischen Juden“ an. Senderovich argumentiert, dass die sowjetischen Juden nicht einfach das Produkt der kommunistischen Ideologie waren, sondern vielmehr das Ergebnis eines dynamischen Zusammenspiels zwischen staatlicher Politik, individuellem Handeln und kulturellem Schaffen. Durch detaillierte Analysen postrevolutionärer jüdischer Literatur und Filme versucht er individuelle Wege des Sowjet-Werdens aufzuzeigen und wirft hierdurch auch zugleich Licht auf bisher vernachlässigte Schaffensphasen bekannter jüdischer Autoren.

Bei seiner Analyse jüdischen Lebens in der Sowjetunion konzentriert sich der Autor auf die ersten zwei Jahrzehnte nach der Revolution, die von zwei markanten Umbrüchen flankiert sind: der Auflösung des Ansiedlungsrayons und dem Beginn der stalinistischen Ära. Der Stand der Forschung in diesem Bereich hat sich bisher weitgehend auf die staatlich gelenkten Bemühungen zur Schaffung einer neuen sowjetischen Identität konzentriert.1 Senderovichs Arbeit fügt diesem Verständnis eine neue Nuance hinzu, indem sie das selbstbestimmte Handeln der sowjetischen Juden bei der Gestaltung ihrer eigenen Identität hervorhebt.

Einleitend definiert Senderovich den von ihm zu erfassenden sowjetischen Juden als ein männliches Phänomen. Er begründet dies auf unterschiedlichen Ebenen, hebt die religiöse Rolle des Mannes im osteuropäischen Judentum der Zeit hervor und verweist auf die Dominanz männlicher Autoren und Protagonisten (jüdischer) zeitgenössischer Literatur. Senderovich identifiziert die Darstellung des sowjetischen Juden als antithetisch zum modernistischen Bild des sowjetischen Mannes, der durch die bolschewistische Ideologie kreiert wurde. Die Analyse weiblicher Charaktere in derselben Literatur, die Frauen zumeist als notwendige, aber stimmlose Nebenrollen darstellt, stärkt dabei Senderovichs Argument, dass der sowjetische Jude zumeist als Mann gedacht wurde.

Der Einleitung folgen fünf Kapitel, die sich mit Merkmalen des sowjetischen Juden befassen. Um die entstehende Figur dieses Typus zu charakterisieren, beleuchtet Senderovich mehrere, miteinander verflochtene und indeterminierte Vektoren jüdischen Seins und Schaffens. Besonders gewinnbringend ist hierbei die Analyse des von Harriet Murav und ihm erstmals ins Englische übersetzten Werkes „Judgement“ von David Bergelson, das die Grundlage des ersten Kapitels bildet. Senderovich etabliert auf Basis des jiddischen Textes die anhaltenden Traumata in Folge der Pogrome im Bürgerkrieg als charakterformendes Element. Zugleich enthüllt er Bergelsons getarnte und distinkte Kritik an den Bolschewiki. Die Auflösung des Ansiedlungsrayons und die Machtübernahme der Bolschewiki hat zwar die Bewegungsfreiheit der jüdischen Bevölkerung erhöht und die Bindung an das Štetl aufgelöst, Senderovich argumentiert jedoch überzeugend, dass sich die Pogrome weiterhin und noch für viele Generationen auf die Identitätsbildung auswirkten.

Im zweiten Kapitel führt Senderovich anhand von Moyshe Kulbaks satirischem Werk „Die Zelmenyaner“ einen weiteren Charakterzug des sowjetischen Juden ein. Er beschreibt dabei den Prozess der Transformation der jüdischen Bevölkerung seit der Auflösung des Ansiedlungsrayons als distinktes Merkmal. Der Hinterhof der Zelmenyaner, einer jüdischen Großfamilie, um die sich die Geschichte Kulbaks rankt, sei ein Ort der Erinnerung und Nostalgie, umgeben von der sich stetig und rapide verändernden Außenwelt. Der Hinterhof, der als Symbol für den post-revolutionären kulturellen Raum steht, wird nicht als Abbild des Štetls, sondern vielmehr als eine individuelle Antwort auf die Mobilität der sowjetischen Moderne und ihrem industriellen Ausdruck interpretiert. Die jüdische Erfahrung sei zusätzlich von Migration und Entwurzelung geprägt. Diese distinkt jüdische Transformationserfahrung und Einbindung in einen neuen kulturellen Raum, der von der sowjetischen und revolutionären Ära entfremdet sei, wird von Senderovich in diesem Kapitel teilweise unpräzise und überwiegend mit Rückbezug auf die zuvor analysierte Vertreibungserfahrung begründet, was seine Argumentation nicht immer nachvollziehbar macht.

Das dritte Kapitel befasst sich mit der literarischen Darstellung des sowjetischen Juden oder vielmehr seiner Abwesenheit in Birobidschan. Diese jüdische autonome Oblast (=Bezirk) wurde 1934 gegründet und sollte zum neuen Zentrum jüdischen Lebens in der Sowjetunion werden. Das Projekt blieb jedoch weitestgehend erfolglos, nur wenige Jüdinnen und Juden siedelten sich in der Region an und sie machten nur einen Bruchteil der dortigen Bevölkerung aus. Anhand der Werke der jüdischen Autoren Viktor Fink und Semyon Gekht beschreibt Senderovich die Abwesenheit jüdischer Protagonisten in Birobidschan als bezeichnend für die jüdische Literatur in den Jahren nach der Revolution. Senderovich schließt hieraus auf untergründige Zweifel der Autoren an dem Erfolg des Siedlungsprojekts. Sowohl Gekht als auch Fink würden somit, den formellen Rahmen der sowjetischen Ideologie und Propaganda einhaltend, die idealisierten Realitäten, die nicht mit den individuellen Erfahrungen der Siedler korrespondieren, dekonstruieren. Senderovich bietet damit eine Neuinterpretation der Gesamtwerke beider Autoren und entrückt diese von ihrem Status als uniformen Teil sowjetischer Propagandaliteratur.

Um die Unbestimmtheit des Status der vormals unbeliebten jüdischen Minderheit in einem „transformierten“ Vielvölkerstaat der Brüderlichkeit und Gleichheit begreiflich zu machen, stellt Senderovich die Erzählung „The return of Nathan Becker“ in den Fokus des vierten Kapitels. Bei der Untersuchung des Werkes, das durch eine Zusammenarbeit des jüdischen Dichters Peretz Markish und der Filmemacherin Rashel Milman entstanden ist, bezieht Senderovich auch die frühe Tonverfilmung und Varianten des gleichnamigen Theaterstückes in seine Analyse ein. Seine Untersuchung ordnet die Darstellungen an der Grenze zwischen avantgardistischer Schule und sozialistischem Realismus ein und zeigt wie das Medium Film als Propagandainstrument genutzt wurde. Senderovich eröffnet außerdem neue Perspektiven auf die autonome Oblast Birobidschan, in dem er dessen Rezeption mit dem Topos des wandernden Juden verknüpft. Birobidschan sei demnach nicht als neues Zion, sondern lediglich als weitere Station in einer langen Reihe jüdischen Exils wahrgenommen worden.

Das letzte Kapitel widmet Senderovich Isaac Babel und dessen frühen Erzählungen zu „Hershele Ostropoler“. Der Autor setzt Babels Kunstfigur Hershele in den Kontext des stalinistischen Diskurses über die Brüderlichkeit der Menschen und plädiert im Ergebnis für eine teils radikale Neubewertung von Babels Schaffen. Entgegen der Thesen von Yuri Slezkine, der aus Babels Bewunderung für die russische Literatur dessen Wunsch ableitet, vom „Jüdischen“ zurückzutreten, sieht Senderovich darin einen Beleg für die Dualität der jüdischen Identität und der Geburt des neuen Typus des sowjetischen Juden. Der sowjetische Jude sei in der Lage, sich in zwei Welten zugleich zu bewegen, ohne dabei einer von diesen vollständig zugehörig zu sein. Dadurch zeigt Senderovich den sowjetischen Juden als transformativen Charakter, der in einem „dazwischen“ lokalisiert ist.

Im Epilog präsentiert Senderovich doch noch eine weibliche Perspektive, die allerdings außerhalb seines eigenen Beobachtungszeitraumes liegt. Er deutet an, dass die Erfahrung jüdischen Lebens unter Einbezug derselben wohl um weitere Facetten ergänzt werden müsste – diese aber durch die herangezogene beziehungsweise verfügbare Literatur nicht ausreichend herausgearbeitet werden könne. Hierin steckt Potential für weiterführende Studien.

Durch seine intensive Auseinandersetzung mit Werken postrevolutionärer jüdischer Literatur bietet Senderovichs Monographie eine neue Lesart jüdisch-sowjetischer Literatur der Zwischenkriegszeit an, die die Debatte um jüdisches Schaffen und Identität in der jungen Sowjetunion bereichert. Das Buch bietet dabei eine innovative Untersuchung der komplexen Prozesse, die diese Identität geformt haben. Der Autor bietet ein nuanciertes Verständnis der sowjetisch-jüdischen Identität und stellt die weit verbreitete Annahme in Frage, dass diese ausschließlich von der kommunistischen Ideologie geprägt wurde. Senderovichs Arbeit ist gut strukturiert und bietet trotz dem literaturwissenschaftlichen Zugang auch für Historiker, die sich mit jüdischer Geschichte, Nationalitäten oder der Kulturgeschichte der Sowjetunion beschäftigen neue und wertvolle Erkenntnisse.

Anmerkung:
1 Die Analyse wird hier gewinnbringend in die bestehende Forschung von Masha Gessen und Anna Shternshis eingebettet und bietet neue Interpretationsansätze an, die zu einem besseren Verständnis der Innen- und Außenwahrnehmung jüdischen Sowjet-Werdens führen kann. Siehe hierzu: Masha Gessen, Where the Jews Aren't. The Sad and Absurd Story of Birobidzhan. Russia's Jewish Autonomous Region, New York 2016; sowie: Anna Shternshis, Soviet and Kosher. Jewish Popular Culture in the Soviet Union, 1923–1939, Bloomington 2006.